Das Ende der Aufklärung?
Im 19. und 20. Jahrhundert glaubte man im Allgemeinen, dass sich der Verlauf der Welt und die Geschicke der menschlichen Gesellschaften historisch entwickeln. Das heißt, man nahm an, dass es immer eine Progression gibt und sich alles ständig zum Besseren entwickelt. Noch in den spätbürgerlichen Staaten nach dem 2. Weltkrieg wurde davon ausgegangen, dass die nächste Generation es einmal leichter haben wird. Die Kinder sollten es mal besser haben.
Ausgelöst wurde dieser Gedanke zum einen durch den enormen Erkenntnisgewinn durch die immer versierter werdenden Wissenschaften. (Zu nennen ist in diesem Zusammenhang sicher Charles Darwin und seine Entdeckung in Bezug auf die Entstehung der Arten) sowie die, durch Hegel und später Marx, populär werdende historische Betrachtung in den Geisteswissenschaften.
Wissen, Ethik und Politik entwickelten sich demnach nicht durch göttliche Fügung oder die erleuchteten Geistesblitze weniger begnadeter Auserwählter, sondern durch eine gemeinsame Leistung der Menschheit. Wissen und Erfahrung wurden über Generationen und Generationen weiter gegeben, hinterfragt, auf Irrwege geführt und von Irrwegen befreit. Der Gedanke war positiv. Auch wenn sich diese Entwicklung keineswegs linear vollzog, schien es doch Gesetz zu sein und man konnte eine ständige Vervollkommnung der Menschen und der menschlichen Gesellschaften erwarten.
Der immer rasantere Aufstieg der Industrialisierung, und die damit einhergehende Beschleunigung der Kenntnisse der Physik, konnten offensichtlich wahre Wunder bewirken. Immer mehr schwere und unangenehme Arbeiten wurden von Maschinen erledigt, elektrischer Strom, sich selbst antreibende Fahrzeuge, Übertragung von Informationen, Bild und Ton über 1000e Kilometer kündeten von einer glorreichen Zukunft.
Doch all dies blieb nicht unwidersprochen. Wenn alles deterministisch, empirisch und berechenbar darzustellen ist, dann gibt es keinen Gott. Religionen lehnen naturgemäß eine historische Sicht auf die Welt ab, da sie meist davon ausgehen, dass es einen ersten Beweger, einen Erschaffer der Welt gibt oder doch zumindest alles in einem Zyklus, einem Kreislauf geschieht. Veränderungen können aus dieser Sicht nur Oberflächlichkeiten und Nebensächlichkeiten sein, da am Ende doch alles wieder in dem Einen, in dem Ursprung aufgeht.
Auch gab es (und gibt es) reaktionäre Kräfte. Diese lehnen eine Progression ab, vornehmlich schlicht aus persönlichen Gründen, da diese mit Verlust von Macht, Besitzt, erblichen Adelsrechten oder Ähnlichem einhergeht. Oder sie wollen glauben, dass bestimmte Gruppen (ihre eigene) uralte Rechte auf bestimmten Boden oder gleich auf die Existenz im Allgemeinen haben.
Die Aufklärung, die Grundlage jeder bürgerlichen Gesellschaft (und in der auch andere Gesellschaftsmodelle wie der Kommunismus ihre Basis haben), ist im Kern eine zutiefst historische und materialistische Begebenheit. Im 19. und 20. Jahrhundert schienen die Aufklärung und die Französische Revolution unumkehrbare Ereignisse zu sein. Doch im 21. Jahrhundert bröckeln die Gewissheiten.
Die Progression scheint kein Heilsversprechen mehr zu sein. Umweltzerstörung und rasante Zunahme der Ungleichheit, fatale Armut, Hungertod und Migration sind unabänderbare Konstanten der aktuellen Weltgemeinschaft. Günther Anders Warnung(1), dass die Menschheit von der eigenen technischen Revolution überholt wird, ist schon lange kein bizarrer Plot für billige Science-Fiction-Romane mehr.
Durch Spezialisierung und Expertentum ist die Digitalisierung, die binnen kürzester Zeit das Leben aller Menschen verändert hat (ich denke man macht keinen Fehler, wenn man den Beginn der Digitalisierung auf das Jahr 2000 mit der Gründung von Google legt) zu einem für das einzelne Individuum undurchschaubaren mythischen Monster geworden.
Die Digitalisierung, die zu 100 Prozent aus empirischen, rationalen mathematischen Berechnungen besteht, scheint ein Göttergötze geworden zu sein. Willkürlich, unberechenbar(!) und grausam. Doch wenn sie doch nur Menschenwerk ist, wenn sie eben berechenbar ist, kann sie dann nicht die Rettung der großen Gedanken der Aufklärung sein. Vielleicht gibt es doch “Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit”? Vielleicht wendet sich doch alles zum Besten?
(1) Günther Anders Die Antiquiertheit des Menschen. Band I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. C. H. Beck, München 1956