Die Intelligenz der Massen

Im Zuge der rapide fortschreitenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert entstand ein neues Phänomen. Eine in der Menschheitsgeschichte so noch nie dagewesen Veränderung, die Entstehung der Massen. Das Zentrum des kulturellen und vor allem wirtschaftlichen Lebens verschob sich vom Land in die Stadt. Von einer seit Jahrhunderten geprägten sozialen Gemeinschaft im Dorf oder der Kleinstadt zu den anonymen Arbeitermassenquartieren in den immer riesiger und dominanter werdenden Industrie- und Großstädten.

Dies änderte die Gesellschaft fundamental. Die Klassenverhältnisse änderten sich von Bauer und Herren zum Heer der Arbeiter, den Proletariern, und denen, die die Arbeiter für sich arbeiten lassen, den Fabrikbesitzern und Kapitalisten. Die Masse ist somit ein politischer Akteur. Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass die Massen eine sehr ambivalente Rolle spielen kann. Zum einen wurden totale Kriege und unglaubliche Grausamkeiten im Namen des Volkes, der Gemeinschaft oder der eigenen Gruppe begangen, zum anderen setzte sie eine ungeheure Demokratisierung und Zerstörung der Herrschaftsstrukturen in Gang.

Heute leben wir in einer Massengesellschaft, mit allen Vor- und Nachteilen und ob wir wollen oder nicht. Jede Herrschaftsstruktur muss, wenn sie die Herrschenden an der Macht halten will, die Massen kontrollieren. Dies geschieht neben direkter Gewalt oder materieller Abhängigkeit, vorrangig durch die Medien. Spielte schon das Radio im 2. Weltkrieg eine nicht zu unterschätzende Rolle zur Mobilisierung der Menschen, kommen heute noch das Fernsehen und im entscheidenden Maße das Internet dazu.

Das Internet (im weitesten Sinne) ist heute der wichtigste Akteur, wenn es darum geht, eine Entscheidung zu treffen oder sich zu einer Entscheidung verleiten zu lassen. Es kann die Menschen veranlassen bestimmte Produkte und Marken zu mögen oder bestimmte Gruppen zu hassen, es entscheidet über Krieg und Frieden. Dominiert wird das, was wir heute Internet nennen, von einer Handvoll riesiger Tech-Konzerne, die sich, wenn überhaupt, nur lieblos die Mühe machen, ihre Verbindung zu Militär und Macht zu verstecken.

Auf den ersten Blick scheint es heute mühelos zu gelingen, die Menschen zu lenken und sie zu manipulieren. Die Massen scheinen dumm und apathisch, höchstens fähig sich zu einem Mob zu verbinden. Doch schaut man genauer hin, sieht man ein Phänomen, welches sich bei der Vernetzung von Menschen und Kulturen fast immer ereignet, der Austausch von Wissen, die Vermehrung von Wissen, die Intelligenz der Massen.

Wie viele Fliesen wurden gelegt und viele Socken gestrickt, mit Anleitungsvideos aus dem WWW? Wie viele Fragen beantwortet und Projekte organisiert? Das Wissen der Einzelnen ist in der Kombination fast unendlich, zumindest was unsere kleine Welt auf unserer kleinen, runden Erde betrifft. Diese Kombination des Menschheitswissens ist unglaublich mächtig und neben dem korrekten Legen von Fliesen eine Möglichkeit zu echter Emanzipation und Selbstermächtigung.

Dies kann nicht gelingen, wenn dieses Wissen in der Hand einiger weniger, oben erwähnter Konzerne liegt und diese den Zugang beliebig verweigern, erschweren oder manipulieren können. Dieses Wissen entfaltet seine Macht durch den freien, uneingeschränkten Zugang für alle Menschen und durch die Dynamik, die daraus entsteht, dass dieses Wissen beliebig verändert, kombiniert und neu verhandelt werden kann.

Um das zu gewährleisten, benötigt man offene Quellen. Diese garantieren permanente Verfügbarkeit und permanente Transparenz, wie sich die Quelle geändert hat und was ihr Ursprung ist. Open Sources sind eine radikale Idee.

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