Individuelle Kryptografie

In der klassischen Vertragstheorie à la Rousseau oder Hobbes, also im Kontraktualismus, geht man davon aus, dass sich eine Gesellschaft aus einem Urzustand entwickelt. In diesem Urzustand gibt es noch keine Gesellschaft und keinen Vertrag, es ist ein Zustand des amoralischen Rationalismus, in dem jeder Mensch auf sein eigenes Wohl achten muss, um zu überleben. Es ist die Konstellation “aller gegen alle”. Entsteht die Gesellschaft aus einem Urzustand, finden wir einen fairen Ausgangszustand vor oder profaner, im Zweifel kann jeder jeden töten. Ungleichheit entsteht erst mit Besitz.

Eine Gesellschaft wird nach dieser Theorie durch einen Vertrag (Kontrakt) gebildet, dieser Vertrag entsteht aus Notwendigkeit. Nun muss man die Vertragstheorie nicht teilen, sie zeigt aber gut, unter welchen Voraussetzungen (neue) Gesellschaften entstehen.

Auch heute stehen wir vor einer Neuverhandlung einer Gesellschaft. Allerdings nicht aus einem Urzustand, sondern als Übergang von der bürgerlichen in eine digitale Gesellschaft. Von einem fairen Ausgangszustand kann keine Rede sein, da die untergehende, spätmoderne, akkumulierte Gesellschaft in extremen Maße von Ungleichheit geprägt ist. Diese extreme Ungleichheit bildet sich, wie bereits gezeigt, durch die Entstehung digitaler Monopole schon in der neuen Gesellschaft ab.

Der Zustand des amoralischen Rationalismus (Hobbes nennt das “homo homini lupus” – der Mensch ist, dem Menschen ein Wolf) ist dagegen heute leicht zu beobachten. Der gesamte digitale Raum ist ein “militarisierter” Bereich. Im Zweifel greift jeder jeden an, es gibt praktisch keine Region, in der man sicher ist. Sobald man ein Gerät mit dem Internet verbindet, ist es öffentlich und angreifbar. Jeder gemütliche Nachmittag, mit Tablet und Smart TV auf dem Sofa, findet eigentlich mit geöffneter Geldbörse und in Unterwäsche auf dem Marktplatz statt.

Die überkommenen Monopole der kapitalistischen Gesellschaft sind nicht nur amoralische Akteure (wie alle anderen), sondern sie sind Wölfe auf dem Weg zum neuen Leviathan(6). Wölfe mit enormer Macht.

Um eine Gesellschaft ohne den Zustand des amoralischen Rationalismus sowie der monopolisierten Ungleichheit zu erreichen, benötigen wir auch da Werkzeuge. Werkzeuge, die nicht den Zustand “Aller gegen alle” grundsätzlich beenden wollen, sondern ihn anerkennt und in der Struktur unschädlich macht.

Dieses Werkzeug ist die Kryptografie. Kryptografie gibt es, seit sich die Menschen als widerstreitende Gruppen entgegenstehen. Nicht wenige Kriege wurden gewonnen, in dem die eigenen Informationen für den Feind unverstehbar verschlüsselt wurden bzw. die Informationen des Gegners entschlüsselte werden konnten. Da wir uns im digitalen Raum (und in der daraus resultierenden Informationsgesellschaft) in einer “militarisierten” Zone befinden, ist Verschlüsselung der eigenen, privaten Informationen für jeden Akteur essenziell und für ein freies, selbstbestimmtes digitales Leben unerlässlich.

Das bedeutet, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ein Recht auf individuelle Kryptografie erkämpft werden muss. Individuell bedeutet in dem Zusammenhang, dass die Ver- und Entschlüsselung der eigenen Informationen nur durch das einzelne Individuum vorgenommen werden kann. Es gibt also keine Zwischeninstanzen. Im Klartext liegt die Information nur bei den individuellen Akteuren vor, an die sie auch gerichtet ist. Man nennt das Ende-zu-Ende-Verschlüsselung.

Da wir uns in der Übergangsphase von bürgerlicher zu digitaler Gesellschaft befinden, tobt ein Kampf um das Recht auf individuelle Kryptografie. Dieser Kampf wird so erbittert und brutal geführt, dass sich in der Umgangssprache der Begriff “Cryptowars”, also kryptografischer Krieg, eingebürgert hat.

Die Gegner der Kryptografie sind, wie zu erwarten, das etablierte, digitale Monopol sowie die überkommenen Strukturen der spätbürgerlichen Gesellschaften wie Staat und die, die alten Machtstrukturen verteidigenden, Exekutiven. Begründet wird diese Reaktion meist nicht mit Machterhalt, sondern mit der Schlechtheit der Menschen. Die Menschheit müsse überwacht werden, weil sie sich sonst zerstöre. Heiliges Mantra und Dreifaltigkeit ist in diesem Zusammenhang oft “Terroristen, Nazis, Kinderschänder” und die populistische Drohung, dass wir ohne patriarchalen Schutz diesen pathologischen Phänomenen schutzlos ausgeliefert wären. Gemeint ist aber eine kollektive Vorverurteilung aller, als Machtinstrument.

Wie oben gezeigt, geht auch die individuelle Kryptografie von amoralischen Akteuren aus, zeigt aber deutlich, dass der Schutz vor dem amoralischen Rationalismus der anderen nur der Schutz der eigenen Informationen sein kann. Ebenso ist es entscheidend, um mit den überkommenen, kapitalistischen Machtstrukturen der alten Epoche zu brechen.

(6)Thomas Hobbes: Leviathan. Cambridge University Press, Cambridge 1996, ISBN 978-0-521-56797-8.

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